Die große Maschine würde weinen.

Seit Wochen rollen die Erbeben-Wellen wegen des Falles Böhmermann durchs Land – wegen der sogenannten „Causa Böhmermann“. In deren Windschatten hat das Rechercheteam „Altersarmut“ des WDR eine Rentendebatte entfacht. Doch statt blindem Alarmismus täten nüchterne Fakten und Lösungsvorschläge gut.

Causa Böhmermann hört sich ja irgendwie toll an. Als beginne sogleich ein Mantel-und-Degen-Drama. Kling-Klang. Dagegen klingt „der Fall Böhmermann“ wie nichts. Als lege man ein welkes Blatt Salat auf sein Sandwich mit Fleischwurst von gestern. Freilich ist diese „Causa“ nicht das, was mich kirre macht. Zermürbend und niederschmetternd ist die gegenwärtige, sogenannte Rentendebatte, die durch das Land rollt.

Böhmermanns Auftritte im Fernsehen kann ich durch einen leichten Druck meines linken oder rechten Daumens für mich beenden. Eine Rentendebatte aber, die vor Falschem und falsch verstandenem nur so strotzt und dann noch von gut bezahlten WDR- Beschäftigten mit einer fabelhaften Zusatz-Altersversorgung losgetreten wird, die kann ich durch Daumendruck nicht beenden.

Bild textete am 12. April auf seiner ersten Seite, in riesigen weißen Lettern, schwarz hinterlegt und durch rote Balken unterstrichen: „Rentenalarm. Das kommt jetzt auf uns zu.“ Auf uns zu komme Altersarmut, massenhaft. Millionenfach. Ausgelöst hatte den Bild-„Alarm“ eine Untersuchung eines WDR-Rechercheteams namens „Altersarmut“. Danach sollen 2030 nahezu 50 Prozent der Neu-Rentner und -Rentnerinnen in Altersarmut versinken; beziehungsweise würden diese 50 Prozent auf „Sozialhilfeniveau landen, wie „Studien“- Autor Holger Beckmann im Phönix- Gespräch erzählte. Beckmann vertrat in diesem Interview zudem die Meinung, „die Politik“ habe in der Vergangenheit in diesen Bereich überhaupt nicht blicken wollen. Interessant, habe ich gedacht. Das ist ja interessant. Wie kommen die auf so etwas?

Wie gelernt, habe ich zuerst einmal beim WDR in die Suchmaske „Rechercheteam Altersarmut“ eingegeben, weil ich bei mir gedacht hatte, dass in diesem Team vielleicht gut informierte Leute arbeiten, von denen ich noch etwas lernen könnte. Die Suchmaske reagierte auch und spuckte ein Interview des WDR2 mit dem bereits erwähnten Holger Beckmann aus. Mehr nicht. Rechercheteam gesucht – Beckmann gefunden. Das war übrigens ein Interview, in welchem er darlegte, dass man zu Beginn der Studie die heutige Arbeitswelt auf das Jahr 2030 „gespiegelt“ habe. Da allerdings wurde mir zweierlei klar: 1. Dass das mit dem Lernen wohl nichts werden würde. 2. Dass das Rechercheteam „Altersarmut“ offenbar nicht will, dass man es namentlich kennen lernt. Jedenfalls hatte all das mit der stets und ständig geforderten Transparenz nix zu tun.

Im Verlaufe meiner Herumsucherei wurde mir auch klar: Diese WDR-Studie ist gelaufen wie geschnitten Brot, wie man so sagt. Bild und die Tagesschau, Phönix undnt-vSpiegel und  Deutschlandfunk. Das WDR-Zeugs wirkt wie ein Kavenzmann zu Anfang eines Katastrophenfilms. Angst und Schrecken. Prompt reagierten auch die Parteien. Die einen reden über eine große Rentenreform, die manches revidiert, was vor gut zehn Jahren beschlossen und in Gesetze gegossen worden ist. Die anderen sagen: Erst mal gucken, was ist, und dann etwas tun. Die einen wollen die Rente zum Wahlkampfthema machen, die anderen warnen davor.

Gegenwind gab es aber auch. Kein Gegen-Kavenzmann, sondern deutliche Worte. Befreiend die Stellungnahme von Caritas-Direktor Georg Cremer. Der nannte die Studie im Deutschlandradio Kultur „methodisch falsch, zu kurz gegriffen, unseriös“, denn einmal werde vom „Rechercheteam“ unterstellt, dass sich am beruflichen- und Lohnstatus der heute Beschäftigten bis 2030 nichts ändere (Rentenforscher Beckmann bezeichnete dies als „spiegeln“). Und zweitens hätten die WDR-Armutsforscher Studenten, temporär beschäftigte Hausfrauen und sogar Rentner in ihre Berechnungen einfließen lassen, die in eine solche Studie überhaupt nicht einbezogen werden dürften. Damit wird das Rentenniveau an zwei Punkten grob verfälscht. Cremer wörtlich:

Es bedroht auch den gesellschaftlichen Frieden, wenn man mit einer völlig vagen, methodisch unsauberen Prognose, wo auch die Namen der dies erstellenden Wissenschaftler gar nicht genannt werden, behauptet, in 14 Jahren wären 50 Prozent der Neurentner arm. Und es entsetzt mich, dass diese Geschichte unüberprüft in allen Medien wiedergegeben wird.

Der Chef der Wirtschaftsredaktion der der FAS, Rainer Hank, wütete während der jüngsten Anne-Will-Talkshow regelrecht gegen die WDR Studie, weil sie grottenfalsch sei. Die anwesende NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zog sich mit dem Hinweis aus der Affäre, sie kenne die WDR-Studie nicht. Wie gut, dass es noch Menschen gibt, die sich um solche Studien nie und nimmer kümmern müssen. Bild hat nachrechnen lassen, wie viel die monatliche Pension der früheren WDR-Intendantin Monika Piel beträgt, die nach sechs Jahren als Chefin aufs Altenteil ging: 12.500 bis 13.500 Euro. Das allerdings wäre ein kaum zu toppendes Niveau. Aber das nur am Rande.

Wer dem erwähnten Holger Beckmann ein wenig auf den Spuren bleibt, der findet aufTagesschau.de einen aufschlussreichen Text aus seiner Feder – und zwar mit seinem zentralen Fehler. „Entscheidender Grund dafür (für die Altersarmut – Ergänzung des Autors) ist das schon seit langem sinkende Niveau der gesetzlichen Rente. Von 2030 an soll es auf bis zu 43,5 Prozent des Durchschnittslohns der gesamten Lebensarbeitszeit fallen.“.

Das ist natürlich Blödsinn. Die Rente folgt nicht dem Rentenniveau. Das Wort ist ja mittlerweile ein Klassiker, wie die Vierer-Kette oder der hängende Mittelstürmer. Der frühere Minister Norbert Blüm hat das Rentenniveau und den fiktiven „Eckrentner“ zu öffentlichen Popanzen gemacht. Motto: Oh Gott, oh Gott, oh Gott, das Rentenniveau sinkt! Dabei bezeichnete

·       der Eckrentner nichts anderes als ein fiktives Arbeitsschicksal,

·       bei welchem der fiktive Arbeitnehmer 45 Jahre lang ununterbrochen Durchschnittslohn nach Hause brachte und

·       tagesgenau zum Zeitpunkt des gesetzlichen Rentenbeginns seinen Arbeitsplatz geräumt hatte.

Für dessen Rentenniveau legte sich Blüm ins Zeug. Und nun, liebe Leserinnen und Leser von CARTA, überlegt mal selber, ob dies auf euch zutrifft. Auf mich jedenfalls nicht. Bei Blüms Märchen blieb stets und ständig ungesagt, dass damals Millionen Beschäftigte weder die Standardrente noch das von Blüm hochgejazzte Rentenniveau hatten.

Leider ist die ganze Geschichte ja noch ein wenig komplizierter als es die WDR-Schlauköpfe wussten. Zu Blüms Zeiten gab es tatsächlich dieses eine Rentenniveau für den fiktiven Eckrentner. Stiegen die Löhne und Renten im Gleichschritt, war das so, blieb das Niveau unberührt. Die Riestersche Rentenreform hat das beendet, weil sie wegen der demografischen Entwicklung anders steuern musste. Es wurden zwei Rechengrößen in die Renten-Anpassungsformel eingearbeitet, die den Anstieg der Renten mal verlangsamten (wenn in einem Jahr zu viele Neu- Altenteiler ihre Rente erhielten und wenn der Beitragssatz zu rasch stieg) mal den Anstieg beschleunigten wie im laufenden Jahr 2016.

Es gibt also jedes Jahr ein anderes Rentenniveau. Und das gibt heute eben an, wie sich eine Standardrente (das ist die Alters-Rente ab dem geltenden Rentenzugangsdatum auf der Grundlage von 45 Entgeltpunkten) zum durchschnittlichen Nettolohn/-gehalt stellt. Aber Jahr für Jahr mit einem anderen Niveau. Ist das Rentenniveau hoch, liegen die Renten näher am Durchschnittsentgelt, ist es niedriger, laufen Nettolöhne und -Gehälter den Renten davon. Die Renten können also durchaus steigen und dennoch das Niveau sinken. Die Bundesregierung schätzte in ihrem letzten Rentenbericht aus 2015, dass die Renten bis 2029 im Schnitt um zwei vH Steigen werden. Die 1.000 Euro von heute würde also 2029 würde dann bei 1.280 Euro liegen. Halbwegs netto, nach Abzug durchschnittlich gerechneter Sozialbeiträge, also der Kranken-und Pflegeversicherung. Die Bundesregierung unterstellt in ihrer Schätzung, dass der Beitragssatz der Rentenversicherung 22 vH nicht übersteigt.

Die Rente folgt der Zahl der Entgeltpunkte, die Mensch in Laufe seines Arbeitslebens sammelt, dann dem Zeitpunkt des Rentenbeginns, dann der Art der Rente und schließlich dem aktuellen Rentenwert, dem Eurowert eines Entgeltpunktes.

Das wird auf die Formel gebracht: Re =EP x Z x A x RW. Was zum Teufel ist daran so schwierig zu verstehen, dass ein ganzes Team „Altersarmut“ das nicht rafft? Wäre die Rentenversicherung ein lebendes Wesen, müssten wir ihm heute die Tränen trocknen. Vielleicht wundert es sich aber über Medienvertreter, die es, die große Umverteilungsmaschine, so sehen wie ein Rüstungsfabrikant seine Granaten: Fire and forget it.

Die Rente folgt also den Werten in Euro, die jemand während seines Arbeitslebens gutgeschrieben bekommen hat. Hat er weniger verdient und ist die Zeit der Verdienste unterbrochen, dann folgt daraus eine geringere Rente.

Der Gesetzgeber kann das begrenzt durch Zuschüsse ausgleichen. Aber diesen Zuschüssen sind Grenzen gesetzt, weil die gesetzliche Rente die Lebens-Arbeitsleistung abbilden soll. Steckt zu viel Steuerknete in den Renten, geht dieser Grundsatz flöten. Zweitens verletzen allzu hohe Aufwertungen niedriger Renten durch Zuschüsse die Gerechtigkeit, die im System stecken sollte: Der eine hat sich 40 Jahre als Facharbeiter geplagt, ohne große Altersrücklagen bilden zu können, der andere hat 40 Jahre schlecht verdient, weil er keine Ausbildung abgeschlossen hat, war zeitweise arbeitslos, hat in verschiedenen Sparten als Hilfskraft gejobbt. Beide liegen mit ihren Renten vielleicht nur 300 Euro je Monat auseinander, weil Vater Staat dem Schwächeren geholfen hat. Ist das im Vergleich gerecht? Schwierig.

Der Gesetzgeber kann schon kräftig helfen, wenn es um die Rente geht. Aber die Grenzen der Hilfen sind rascher erreicht als man glaubt, Tatsächlich helfen dem System nur vier „Medikamente“ durchgreifend.

·       Das ist einmal ein insgesamt höheres Niveau der Löhne und Gehälter. In der Schweiz funktioniert das ja halbwegs. Und da der Staat die Löhne und Gehälter nicht „macht“, sondern die Tarifparteien, kommt es darauf an, deren Rolle und Einfluss zu stärken.

·       Das ist zweitens eine höhere Arbeitsproduktivität. Arbeit muss „wertvoller“ und damit konkurrenzfähiger werden. Es ist bemerkenswert, dass die Arbeitsproduktivität in der laufenden Debatte praktisch keine Rolle spielt. Da gibt es zwei Erklärungsmuster: Entweder begreift man die Quellen des Wohlstands nicht, der verteilt werden kann oder man hat die Hoffnung auf eine steigende Arbeitsproduktivität verloren.

·       Drittens kommt es ganz entscheidend darauf an, den älteren Beschäftigten mehr und bessere, angepasste Möglichkeiten zu verschaffen, bis ins hohe Alter arbeiten zu können.

·       Viertens wird der Gesetzgeber sich noch einmal genau anschauen müssen, was eine private, durch Kapitalanlagen gedeckte Altersvorsorge bringen kann. Ich halte das nicht für ein Allheilmittel. Aber Lücken in der Altersversorgung lassen sich so schließen.

Hinter der missratenen WDR-Studie steckt demnach ein Bündel von Aufgaben (bitte nicht den Begriff Optionen verwenden, denn ein Alter in Armut sollte einfach keine Option sein), die sich lösen lassen. Wenn Mensch das will.