Was spaltet und was nicht.
/Merkels Satz „Wir schaffen das“ spaltet weder Deutschland, noch zwingt er den Staat in die Knie. Vielmehr sind es Ängste und Ressentiments, die sich in rechtspolpulistischer Rhetorik, Fahnenschwenken und Schlimmeren manifestieren.
Den Satz „Wir schaffen das…“ hatte die SPD im 69er Wahlkampf im größeren Satz „Wir schaffen das moderne Deutschland“ versteckt. Das „schaffen“ war damals keineswegs anstößig. Im Gegenteil. Das Adjektiv „modern“ schon eher. Jedenfalls in unseren Breiten. Erst drei Jahre zuvor, am 20. November 1966, hatten die männlichen Einwohner des Kantons Zürich in der Schweiz noch mit 107.000 zu 93.000 Stimmen das Wahlrecht für Frauen abgelehnt. 50 Jahre später gilt Zürich als Spitze der europäischen Metropolen und Großstädte, wenn es um bürgerliche Liberalität und Gleichberechtigung geht. Nur 50 Jahre später.
Nun steht der Satz „Wir schaffen das“ seit acht Monaten solo. „Der Spiegel“ hat ihn jetzt aufs Cover gehoben, um hinter den drei Worten Europa als Collage zu montieren: Als Ansammlung von Metropolen hinter unübersteigbaren Mauern. Als Festung also. Ob Zürich darunter ist, kann ich nicht feststellen, ist aber anzunehmen.
Es heißt, der Satz habe das Land zerrissen. Glaube ich nicht. Es war der als Kritik daherkommende Reflex darauf, der das Land zerrissen hat. Meine eigene Auffassung ist eigentlich simpel:
1. Sagen über 90 Prozent der Kommunen in Deutschland heute, sie würden mit der Zahl der Flüchtlinge klar kommen.
2. Bezweifle ich nicht, dass die Verfassungsorgane Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat Entscheidungen treffen dürfen, die Deutschland als Ganzes und dessen Zukunft prägen.
3. Traue ich niemandem, der bei Herrn Putin oder Herrn Orban Rat sowie Unterstützung sucht, folglich auch denen nicht, die Regierungsentscheidungen mit dem Ruf „Putin hilf“ quittieren.
4. Macht mich nachdenklich, dass Länder mit geringerem Lebensstandard und mit weniger Daseinsvorsorge prozentual mehr Flüchtlinge aufnehmen als wir.
Der Satz „Wir schaffen das“ hat beste Chancen, einmal in den Geschichtsbüchern zu stehen. Er würde zitiert und – vielleicht – in etwa so interpretiert werden wie Willy Brandts Satz aus der 69er Regierungserklärung: „Lasst uns mehr Demokratie wagen.“
Merkels Satz hat wie der von Brandt – wie soll ich schreiben? – vier wesentliche Anschlüsse “ans Netz“:
Erstens weist das Personalpronomen „wir“ in dem Satz auf eine Gruppe, ein Kollektiv hin. Freilich nicht auf eine wie auch immer geartete Interessen- Gruppe. Stellen sie sich vor, der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hätte sich 2009 ans deutsche Volk gewandt, gesagt, „wir schaffen das“, und damit gemeint, wie gefordert die Umsatzsteuer für Hoteliers zu senken. Volumen: Eine Milliarde Euro. Eine aberwitzige Vorstellung.
Eine solche Gruppe war nicht gemeint. Merkels „wir“ war weder mit reich noch mit arm verbunden, weder mit linkem noch mit rechtem Inhalt aufgeladen. Der Satz war allgemein, aber nicht universell, er bezog sich auf die absehbare Zeit ab dem August 2015 und zugleich ist er zeitlos gültig. Brandts Vorschlag “Lasst uns mehr Demokratie wagen“ war eine Kampfansage, die uns Junge damals elektrisierte. Wir wollten mehr als ein formales Funktionieren der repräsentativen Demokratie. Und wir fühlten uns wie Komparsen beim Dreh von „River of No Return“: Beiwerk und zugleich wichtig.
Zum zweiten hat der Satz „wir schaffen das“ nur Sinn, wenn er mit einem Ziel verbunden ist: Brandts Vorschlag beginnt an einer Grenze. Jenseits der Grenze lag Neues, Unbewältigtes, Unbekanntes. Mit Merkels Satz wird etwas vom Ende her gedacht. Statt Grenzstein Sonnenaufgang.
Drittens beinhaltet Merkels Satz die Aufforderung, sich in Bewegung zu setzen. Langsam oder rasch, das bleibt offen. In meinem Schädel setzt sich Merkels Satz um ins prollig-platte Kölner Kampagnen-Motto von 1992: „Arsch huh – Zäng ussenander“ (Hintern hoch, Zähne auseinander). Da docke ich den Satz an. Andere werden das anders gesehen haben. Die Zeit seit August 2015 spricht für meine Ansicht.
Viertens – und das ist der schwierigere Aspekt – ist ein solcher Satz vom Zuhörer nur mit Sinn zu füllen, wenn ihm ein Motiv unterlegt wird.
Da gäbe es viele Möglichkeiten – Ehrgeiz zum Beispiel. Ehrgeiz würde auf eine Trainerin zutreffen, die ihrer Gruppe zuruft: „Los jetzt! Wir schaffen das!“ Oder ein materieller Anreiz als Motiv. Der Kolonnenschieber schnauzt die Kolonne an: „Denkt mal an die bezahlten Überstunden! Los, an die Pumpen! Wir schaffen das.“
Was gilt? Ehrgeiz oder gar ein ideeller Wert? Nächstenliebe? Pflichtbewusstsein? Verbundensein mit anderen? Verantwortung? Die Kanzlerin sagte nicht: Wir müssen das schaffen! Oder: Wir sollten das schaffen! Sie sagt auch nicht: Ihr sollt das schaffen! Sie redete nicht über das So-Sein, also darüber wie etwas zu sein hat. Sie nutzte das Personalpronomen „wir“ und den Indikativ. Sie betrachtete sich als Teil des Subjekts, das handeln wird.
Es scheint, als ob darin ein komplizierterer Zusammenhang steckt. Seit der Satz fiel, wird öffentlich gerätselt, was hinter ihm steckt. Schauen wir mal gemeinsam in die Geschichte der kurzen Sätze, der Sprüche und Slogans, ob wir etwas finden, das uns weiter hilft.
Nachdem Napoleon 1806 die preußische Armee vernichtend geschlagen hatte, ließ Kavalleriegeneral Graf von der Schulenburg- Kehnert in Berlin anschlagen: „Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht.“ Also nichts mit: Zu den Waffen. Auf den Bonaparte mit Gebrüll! Das war offenkundig im August 2015 nicht gemeint.
In Berlin wurde Schulenburg- Kehnerts Satz im Großen und Ganzen 41 Jahre lang bis 1847 gefolgt. In diesem Jahr brachen in Berlin die sogenannten „Kartoffelunruhen“ aus, Hungerproteste. Vor allem wurden in der Charlottenstraße und anderswo Bäckereien gestürmt. Zugleich war das schon Wetterleuchten auf die März- Revolution von 1848, in der junge Berliner lernten, wie man Barrikaden baut. Schulenburg- Kehnerts Satz wurde zum „Spotlight“. Macht jetzt keinen Krawall, lautete seine Botschaft, geht euren Geschäften nach, lasst die Obrigkeit handeln.
Emile Zolas Satz: „J´accuse“ von 1898 war ebenfalls ein Spotlight. Zola griff den französischen Staat wegen der verbrecherischen, antisemitischen Aktion an, die der an Alfred Dreyfus verübt hatte. Auch Dolores Ibarruris Ruf „No pasaran“ aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Ausstrahlung, Qualität und Bedeutung. „No pasaran“: Sie kommen nicht durch, die Faschisten, die Feinde der Republik. In den sechziger und siebziger Jahren lautete ein Slogan kriegsunwilliger US- Burschen, die nicht nach Vietnam wollten: „Hell no, I won’t go!“
Es gibt also Ausrufe, kurze Sätze, die aus sich heraus ein Schlaglicht auf eine Zeitspanne werfen; Slogans, in denen sich gegensätzliche Kräfte sammeln, in denen Feindschaften offenbar werden. Forderungen, Zurufe, die nicht in sich bleiben, sondern wie Brandbeschleuniger in eine Gesellschaft hinein wirken können. Solche Sätze heben Privatsein auf.
In Deutschland ist der Satz „Wir sind das Volk“, an die Adresse der SED-Herrschaft gerichtet, von ähnlicher Bedeutung wie damals Ibarruris Ruf „No pasaran“ oder Zolas „J´accuse“. Die DDR stand gegen seine Machthaber auf. Nach 40 Jahren Unfreiheit. Manche werden nun die Stirn runzeln. Geht´s nicht eine Nummer kleiner, werden sie fragen. Nein, geht nicht. Denn ich schreibe über Deutschland. Mit all den Merkwürdigkeiten, die sich zeigen.
In anderen Ländern wurde Trennendes während des Verlaufs derer Geschichte zum gemeinsamen ideellen Eigentum. Dolores Ibarruri gehört heute ganz Spanien, nicht nur der dortigen Linken. Niemand in Frankreich kratzt und sägt an Emile Zola herum. Die Kriegsdienstverweigerer sind Teil des National- Mythos der USA geworden.
In Deutschland wird leider Gemeinsames mit der Zeit zu Trennendem. Bei uns gehen die Uhren anders, gehen solche Dinge anders aus als in anderen Ländern.
Das Beispiel? Wolfgang Tiefensee und andere ließen den Satz „wir sind das Volk“ beim Patentamt markenrechtlich schützen, denn sie fürchteten, dass der am Ende von Rechtsextremen übernommen werden könnte. Das war vielleicht naiv. Jedenfalls passte das einer anderen Regimegegnerin nicht, die befürchtete, der Satz werde von den Schützern genutzt, um damit private Geschäfte zu machen. Also ließ sie den gut gemeinten, allerdings wenig wirksamen markenrechtlichen Schutz streichen. Es kam, wie es in miesen Geschichten kommen muss: Schlaue Rechte haben den Satz anschließend marginal ergänzt für sich schützen lassen. Das „Imprimatur“ auf „wir sind das Volk“ gehört freilich Georg Büchner („Dantons Tod“).
Es wäre zu einfach und auch falsch, den komplizierten Zusammenhang hinter dem Satz „wir schaffen das“ auf eine „deutsche Art“ zurück zu führen. Ehrlich gesagt habe ich keine große Lust, über deutsche Arten nachzudenken. Das sollen Herr Söder und Herr Seehofer tun. Die können das im Zweifel besser als ich. Die Bilder von Mölln und Lichtenhagen und Rostock sind in mir eingebrannt, daher kann ich mich über das Kopftuch neben dem Mann in der Lederhose nicht aufregen.
Ich schaue mir Beispiele an:
Während der Legislaturperiode des Bundestages zwischen 1972 und 1976 kam manches nicht so voran, wie das die Koalitionspartner von SPD und FDP der Bevölkerung zugesagt hatten. Die große Rentenreform trug wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht nur die Handschrift der Koalition, sondern auch die der CDU. Die den Gewerkschaften versprochene Unternehmensmitbestimmung wurde schwieriger und schwieriger: Den Arbeitgeberbänden Teufelswerk, vielen Gewerkschaftern lediglich weiße Salbe. Die misstrauisch bis ablehnend aufgefasste Lösung in der Mitte als Anker und Rettung. 1974 hatte die Bundesregierung außerdem eine Steuerreform durchs Parlament gebracht, die insgesamt die Lohn- und Einkommensteuer um 14 Milliarden D-Mark senkte, 20 Millionen Menschen steuerlich besser stellte, aber eben auch Steuerbürger stärker belastete als zuvor. Steuerreformen tragen stets den Januskopf – die einen stehen besser da, die anderen schlechter. Das war damals schon nichts Neues.
Es war 1975 nur noch wütender Protest zu vernehmen. Die mit geringer gewordener Steuerlast schwiegen (ob zufrieden oder nicht, sei dahin gestellt), die mit höherer Belastung tobten. Manche erhoben sich aus der ersten Reihe bei ARD und ZDF, um mit zu toben. Denn es war eine mediale Wut-Wolke erzeugt worden. Finanzminister Apel sagte damals, als der Protest jegliches rationale Argument weggespült hatte: „Ich dacht´, mich tritt ein Pferd.“ Der Bundestagsabgeordnete Gunter Huonker klagte: „Wir sind voll damit ausgelastet, die Wählerverluste so klein wie möglich zu halten.“
Wahr ist, dass es einen Zwang zu Kompromiss und Mitte gibt, dem nicht zu entrinnen ist. Wahr ist aber auch, dass die Mitte zwischen zwei auseinander liegenden Positionen der Ort ist, an dem Ausgangspositionen unkenntlich werden.
Wahr ist ferner, dass sich in aufgeklärten Gesellschaften Balancen ergeben müssten: Hier diejenigen, die mit viel Mühe unter gegebenen Bedingungen Kompromisse herstellen; dort die Adressaten der Kompromisse, verständig und politisch gebildet, so dass sie Vorteile und Nachteile beurteilen können. Freilich sind Millionen darauf trainiert, sich an das zu halten, was die Lenker von ARD und ZDF der Kundschaft empfehlen: Setzt euch bei uns in die erste Reihe. Dort sitzt ihr bestens. Da könnt ihr stets gut gelaunt genießen, was geboten wird. Schwierigere Fernseh- „Kost“ mit absehbaren Bremsspuren am Ego werden einfach später gesendet; wenn die meisten schon nach der Zahnbürste im Zahnputzbecher greifen. So einfach soll´s sein. Hat das Folgen?
Einen ersten Eindruck bekommt man, wenn man noch ein wenig weiter zurück in die Vergangenheit blickt, um zu schauen, wie aus Vergangenheit Gegenwart und Zukunft wurde. Denn die Regierung von 1975 hätte gewarnt sein müssen!
Zwei Jahre zuvor, 1973 war in Dänemark das erfolgreiche Sozialstaats-„System“ auseinander gebrochen. Nein, es war auseinander genommen worden. Wie ein Western Saloon durch die Fäuste von Robert Mitchum oder John Wayne. Es war das erste Mal in Europa, dass so etwas geschah; viele andere Male würden folgen.
Damals stürzte in Dänemark die Socialdemokratiet überraschend von knapp 38 auf 25 Prozent in den Folketing-Wahlen ab. Total überraschend. Die dänischen Sozialdemokraten lagen stets zwischen 42 und 37 Prozent. Plötzlich nur noch 25 Prozent. Klassenbewusste dänische Arbeiter in den Städten hatten ihrer Partei massenhaft und ohne Vorwarnung den Rücken zugedreht und – was besonders ernüchternd war – nicht die alternativen, traditionellen Konservativen gewählt, sondern den wirrköpfigen Populisten Mogens Glistrup, einen Winkeladvokaten, der einen eindimensionalen Wahlkampf um die Steuerlast geführt hatte. Glistrup war ein Typ, wie er den US- Bürgern heute in Trump begegnet: ein unseriöser Schreihals, der neu-alten Schichten Uninformierter und Unaufgeklärter als Erlöser erscheint.
Nur noch die Kerle loswerden, die sich heute am von uns bezahlten Buffet satt machen, hatten sich dänische Arbeiter voller Wut vorgenommen. Die Kerle, die uns immer tiefer in die Tasche greifen, aber sonst nichts zu Wege bringen. Wer denkt da nicht an Pegida und die AfD- Figuren? Damals war das Erschrecken einige Tage groß, der Oppositionsführer im schleswig-holsteinischen Landtag, der „rote“ Jochen Steffen war hochgradig alarmiert, aber die etablierten Parteien steckten den Vorgang in die Schubladen für Absonderliches, dorthin, wo später Freundschaftsbesuche bei Gaddafi oder Erzählungen über UFOs landeten.
Und heute? Landen die 37 Prozent Wahlbeteiligung anlässlich der der Kommunalwahl 2016 in Frankfurt auch mal in einer dieser Schubladen? Neben all den Leserbriefen, Mails, Tweeds, die von Landesverrats- Vorwürfen und Wünschen überquellen, es der Spitze der politischen Klasse mal so richtig, blutig zu zeigen?
Nein, nicht der Satz „wir schaffen das“, hat unser Land gespalten, sondern die Gier, es denen da oben und denen mal so richtig zu zeigen, die von der Regierung begünstigt werden – heute sind es die Flüchtlinge. Und morgen?
Das kleinbürgerliche Ressentiment feiert heute seine Feste. Es wirkt leider ansteckend, weil damit ein Unwissen über die Funktionsweise der repräsentativen Demokratie einhergeht, das nur noch schaudern lässt. Das ist so erschütternd, weil es noch nie in der Geschichte so viele Möglichkeiten gegeben hat, sich erschöpfend zu informieren wie heute. Unwissen, Morddrohungen, Hetze sind „Früchte“, die wir heute ernten: Das Wahlamt gilt nichts. Abgeordnete wurden zu oft als faul und aufs Geld aus diffamiert. Verwaltungen gelten zu vielen einfach nur noch als untauglich und korrupt. Nicht die Frage: Kann das sein, was da behauptet wird, ist Trumpf, sondern die Feststellung: Hab ich´s doch gewusst. Die sind so! Alles Abzocker und Volksverräter.
Nichts ist in diesem Zusammenhang entlarvender als Aufnahmen aus den Prozessen gegen Angeklagte, die Flüchtlingsunterkünfte ausräuchern wollten. Die Kameras fangen Leute bis zur Schulter ein. Vors Gesicht werden aufgeklappte Aktendeckel gehalten, damit die Öffentlichkeit keinen Blick auf Frisur, Augen, Nase, Mund und Kinn werfen kann. Armselige Versteckspiele, Dunkelmänner, die nicht zum dem stehen wollen, was sie angerichtet haben.
Das Volk gehört nicht auf die Straße, um Fahnen zu schwenken, sondern auf die Schulbank, um politische Bildung zu büffeln.