Der GAU von Köln: Sind wir wehrlos oder nur bequem?

In Leipzig randalieren rechte Hooligans, in Düsseldorf organisiert sich die Bürgerwehr. Die Risse in der Gesellschaft werden breiter. Doch warum gelingt es uns heute nicht, die Intellektuellen wie zur Zeit der Friedens- und Ostpolitik zugunsten unseres Gemeinwesens zusammenzubringen?

Wir sollten ehrlich miteinander umgehen. Im Fall der massenhaften Delikte in Köln bedeutet das, zuzugeben, dass wir Betrachter wenig wissen. Die allerwenigsten von uns treiben sich in gewaltbereiten Gruppen herum. „Geil auf Gewalt“ lautete vor Jahren ein Buch Bill Bufords, des damaligen „Granta“-Herausgebers, in welchem beschrieben wird, warum Gewalttätigkeit in bestimmten Gruppen nistet wie die Schabe im Küchendreck.

Ob die ermittelnden Behörden bereits ein zureichendes Bild haben, wissen wir nicht. Zureichend heißt: Präzise Anzahl und Zusammensetzung des Täterkreises, Organisation von Tätergruppen, Motive, gesicherte Beweislagen.

Als ich die ersten, in die Medien tröpfelnden Einzelheiten über die Massen-Delikte in Köln las, war meine erste Reaktion: Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein! Nach und nach dämmerte mir, dass ich einer Art Fata Morgana aufgesessen war: Ich hatte das Kollektiv der Flüchtlinge instinktiv und wie selbstverständlich weitestgehend dem „Reich des Guten“ zugeordnet und dementsprechend den Bereich kriminellen Tuns davon abgetrennt. Wer vor Verfolgung flieht, vor Gewalt und drohendem Tod, der hat anderes im Kopf als andere zu beklauen oder Frauen zu vergewaltigen. Spontane Auseinandersetzungen in einer beengten Unterkunft und ausgelöst durch ethnische Gegensätze sowie zivilisatorische Unterschiede – ja. Auch Gewalt gegen Attentäter, die eine Unterkunft anzünden oder beschädigen wollen. Aber massenhafte Gewalt gegen Teile der aufnehmenden Gesellschaft – das lag jenseits dessen, was ich mir vorstellte. Und das ist eine in unserer Zivilgesellschaft alltägliche Einstellung. Nun merke ich, dass an dieser Einstellung etwas nicht stimmt.

Ja, unter all den Hunderttausenden, die während der letzten Jahre nach Deutschland gekommen sind und die einen irgendwie gearteten Aufenthaltsstatus haben, sind auch Leute, die hier Verbrechen verüben, Verbrechen als Beruf sehen und als Geschäft betreiben; dann sind welche gekommen, die nicht gewillt sind, verachtende, demütigende und verletzende Gewohnheiten aufzugeben. Mit Alkohol zusammen ergibt das eine üble Mischung; es gibt auch junge Männer, die wie es in einem Spiegel TV–Beitrag sinngemäß hieß, lange Zeit auf der Straße gelebt und sich die Überlebensregeln eines grausamen Straßenlebens angewöhnt haben und nun meinen, sie könnten die in Deutschland anwenden – als Einzelne oder in Gruppen, abgesprochen über Handy oder soziale Medien.

All das hätten wir vielleicht unter einer Bedingung wissen können: Nämlich dann wenn wir dem Kollektiv Flüchtlinge von vorn herein mit einer großen, unübersehbaren Portion Misstrauen, Skepsis und Heuchelei statt Willkommen und Freundlichkeit begegnet wären. Haben wir aber nicht. Und das war auch gut so. Denn eine Gesellschaft, die vom Misstrauen erfüllt ist, Willkommen heuchelt, kann nach meiner Auffassung zu Geflüchteten keine Beziehungen entwickeln, die auch nur halbwegs tragfähig sind. Das ist die subjektive, meine persönliche Anschauung der Sache. Was ist in der Rubrik „objektiv“ einzutragen? Einiges ist offenkundig:

Die Massen-Delikte in Köln und anderswo sind ein GAU.

Erstens: Ergebnisse einer frischen Forsa-Umfrage besagen, dass sich für 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger im Land nach der Kölner Silvesternacht nichts an der positiven Einstellung zu Flüchtlingen geändert hat. Aber für knapp 40 Prozent hat sich etwas geändert. Das ist besorgniserregend. In Düsseldorf hatten sich in null Komma nichts einige Tausend Menschen einer über Facebook generierten sogenannten Bürgeraktion angeschlossen, die in der Stadt aufpassen will. In Leipzig verwüsten 250 rechtsradikale Hooligans einen Straßenzug. Was kommt als nächstes? Die Risse in der Gesellschaft werden breiter.

Zweitens und am Wichtigsten: Frauen müssen sich darauf verlassen können, nicht Objekt massenhafter Demütigung und auch nicht von Vergewaltigung in öffentlichen Räumen zu werden. Das ist das Wichtigste überhaupt. Darüber darf es auch keinen Streit geben. „Pfeifen“ gehören nicht an die Spitze der Polizei. Polizei muss gut aufgestellt sein. Randalierer, Schläger, verniedlichend „Grabscher“ genannte Typen etc. dürfen bei Einsätzen wie in Köln nicht einfach freigegeben werden, wenn die Personalien registriert worden sind, sondern gehören in die Gitterwägen bis sie auf einem Polizeirevier landen. Es muss professionell bei Verbrechen ermittelt, dann angeklagt und gegebenenfalls rasch verurteilt werden. Und wenn Leute und Gerät fehlen, wird es angeschafft. Sollte das am Geld scheitern, werden Steuern erhöht. Basta. Das Sexualstrafrecht ist übrigens immer noch lückenhaft. Es muss rasch komplettiert werden. Sollte sich abzeichnen, dass das – ich nenne es laienhaft – Aufenthaltsrecht überarbeitet werden muss, dann sollte das getan werden. Damit ist der Schutz für die Frauen umrissen, nicht zuletzt auch für die Frauen unter den Flüchtenden.

Drittens: Die Folgen der Kölner Nacht lassen sich nicht mit den Methoden der Krisenkommunikation bewältigen, weil das, was sich jetzt abspielt, ein überaus dynamischer Prozess ist, der sich ständig neu auflädt. – zum Beispiel durch hausgemachte Skandale. Wenn in Recklinghausen ein Attentäter mit mehrfacher (siebenfacher?) Identität wohnen kann, wenn derselbe mehrfach verurteilt wurde, gleichwohl unbehindert herumreisen konnte zwecks Tötens verhasster Personen, dann ist der Sachverhalt des Skandals erfüllt. Und wenn erst einmal die „Strategie“ des geschassten Polizeipräsidenten Albers unter die Lupe genommen wird, gibt’s einen richtigen Skandal- Vitalschub. Der Mann hatte ja bereits als Bonner Polizeipräsident ein atemberaubendes Erbe hinterlassen.

Viertens: Ein Blick auf die Größenordnung, in welcher Misstrauen, Ablehnung und auch Hass sich in Teilen der Bevölkerung entwickeln.

Da sind hunderte Frauen, die in Köln und anderswo tief gedemütigt und verletzt wurden. Was können die an Familie, Freundeskreis und Kollegen weitergeben? Wird ihnen geholfen?

Hinter diesen Frauen stehen, verwirrt, voller Furcht – und auch Zorn hunderte, wahrscheinlich tausende Eltern.

Um die herum eine schier unübersehbare Schar anderer Eltern, die mit den Betroffenen fühlen – und um Töchter fürchten, die aus welchen Gründen auch immer mit einem Zug durch die Republik fahren, zum Arbeitsplatz, zur Uni oder zu Freund und Freundin.

Es gibt Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland, die noch mehr Furcht als die Eltern verspüren, weil sie befürchten müssen, dass sie mit ihren Kindern mit Kriminellen in einen Sack gesteckt und dementsprechend behandelt zu werden.

Es gibt ferner Hunderttausende wahrscheinlich Millionen Menschen, die auf die eine oder andere Art erlebt haben, dass der Staat nicht da ist, wenn es darum geht, Leben und Eigentum zu schützen. Dazu gehören diejenigen, die wir oft – immer hübsch anonym – in der Zeitung finden: 80jähriger Handtasche entrissen; dazu zählen auch Gewerbetreibende, die vergeblich auf die Polizei warten.

Vor einiger Zeit hat ein Elektronik-Händler in meinem Stadtteil aufgegeben. Ich habe ihn gefragt, warum er sein Geschäft verlassen habe: Drei Mal Einbruch und keine Versicherung mehr, die ihn aufnahm. Eine Viertelstunde nach dem Alarm sei er im Geschäft gewesen, etwa zeitgleich mit dem privaten Wachdienst. Und die Polizei? Die kam nach drei Stunden. Ich hatte keine Veranlassung, ihm nicht zu glauben.

Können wir ehrliche Antworten geben?

Fünftens: Besorgniserregend sind manche Reaktionen. Vor allem finde ich finde ich jene besorgniserregend, die in ihre Worte die Botschaft stecken – war doch klar, würde mal so kommen bei diesem deutschen Volk. Jakob Augstein textete: „Ein paar grapschende Ausländer und schon reißt bei uns Firnis der Zivilisation.“ Hat er geschrieben. Und nachgeschoben, die Strafrechtsverletzungen in Köln seien von „minderschwerer“ Qualität gewesen. Man stelle sich nur einmal vor, ein wie auch immer geartetes Schicksal hätte ihn zum Justizminister unseres Landes gemacht: Vergewaltigung – na ja, waren doch nur zwei! Im Übrigen: Minderschwer! All das was Eltern, Lehrer und –innen, Großeltern und wer weiß noch außerdem in die Erziehung von Kindern stecken: Firnis! Millionen Menschen (natürlich nicht alle) leben zusammen, gehen miteinander durch dick und dünn, lieben sich von Anfang des Kennenlernens bis zum Ende ihrer Tage mit und ohne Kinder: Nur Firnis, ruft Augstein! Das reißt gleich! Firnis ist ein dünner Schutzanstrich zum Beispiel auf Ölgemälden. Und natürlich gibt es auch das, was Augstein meint. Ein besonders perfides Beispiel fand ich im Bonner General-Anzeiger. Ein Herr Franz-Josef Therré aus dem Städtchen Bad Honnef erkundigte sich neugierig nach dem „Kriminalitätsniveau bei Flüchtlingen und Migranten“. Er vermisst „valide Statistiken“ hierüber, äußert aber den Verdacht, dass Frauen mit Kopftuch in der Silvesternacht in Köln nicht belästigt worden seien. Mit Blick auf den Verdacht, schrieb er: „Durch Hörensagen habe ich das mitbekommen.“ Der Mann ist nach eigenen Angaben Mathematiker und der Bonner GA druckt so etwas auch noch ab.

Sechstens muss – pronto, pronto – darüber nachgedacht werden, welchen Beitrag die Intellektuellen im Land leisten können. Möglicherweise geht’s ja doch bald ums Ganze hier bei uns, also um den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens und dessen Kraft, Gutes für die Menschen zu bewirken. Kündigen sich neue Antagonismen in der Gesellschaft an und damit auch die Spaltung der tragenden Schichten? Wäre schön, wenn wir uns dann auf der richtigen Seite wiederfinden würden. Warum gelingt es uns heute nicht, die Intellektuellen in all ihren Tätigkeitsbereichen, in Wissenschaft und Forschung, in den Medien und in der Kunst zugunsten unseres Gemeinwesens, „des Ganzen“ zusammen zu bringen? Ende der sechziger Jahre gab es ja im Zusammenhang mit der Friedens- und Ostpolitik solche Strukturen; auch in einer Zeit großer Polarisierung und Spaltung.

Sind wir wehrlos oder nur bequemer als unsere geistige „Elterngeneration“?