Zeit der Unsicherheit oder: Zerbrechen als Feuilleton-Problem

Unsere heutige gesellschaftliche „Eigenheit“ liegt nicht im Untergang irgendeines „westdeutschen Wertegefüges“. Sie besteht darin, dass wir alle seit einem Vierteljahrhundert in einem Durchgangszeitalter leben.

Nun soll das westdeutsche Wertegefüge zerbrochen sein. Im Sommer 2015, so Franz Sommerfeld in seinem letzte Woche bei Carta erschienen Text „Der Untergang Westdeutschlands“. Bemerkt habe ich das nicht; aber das kann ja an mir und meinen Unzulänglichkeiten liegen. So etwas wie grauer Star im Erinnerungszentrum. Ganz praktikabel ist für Unzulängliche nach solchen Schreck-Meldungen, eine Geschichte zu erzählen. Das beruhigt die Nerven. Also.

Wissen sie, was in einer Trafostation passiert? Nein? Darin geschieht folgendes: Das regionale Drehstromnetz in Deutschland steht unter Mittelspannung, also unter einer Stromspannung zwischen 10.000 und 20.000 Volt. Diese Mittelspannung wird in die Trafostationen geleitet und dort in Niederspannung umgewandelt. Mit der Niederspannung wird unsere Beleuchtung daheim gespeist, damit kochen wir, sie lässt unseren Laptop ticken, damit betreiben wir unsere elektrischen Geräte. Denn erst wenn diese Niederspannung hergestellt worden ist, können unseren elektrischen Geräte ihre Funktionen erfüllen.

Solche Trafostationen wurden in meiner Heimatstadt Mechernich in der Eifel von der Lahmeyer AG über viele Jahre von hervorragenden Facharbeitern hergestellt; und überall wo sie notwendig waren, wurden solche Stationen aufgestellt, geschlossene Stahlblech-„Büchsen“, in eine schmutzig-grüne Pulverlackierung getaucht, kompakt aber irgendwie auch unauffällig. Gebaut wie für eine Ewigkeit. Mehr als 50 000 Stationen wurden weltweit verkauft.

Ich hoffe, keinen technischen Unfug aufgeschrieben zu haben, denn vom Umspannen verstehe ich nichts. Jedenfalls erzählte damals, als ich ein Junge war, ein Arbeiter aus unserer Straße, der eben von der Schicht kam, die Brot-Dose aus Blech unter den Arm geklemmt, dass nun auch die „Ölaugen“ solche Stationen kauften. „Ölaugen“, das war die mehr oder weniger chauvinistische Umschreibung für Chinesen. Ich sehe den Arbeiter im Blaumann vor meinem inneren Auge, als sei das gestern gewesen.

Das Unternehmen Lahmeyer Compactstation lässt seine Stationen längst nicht mehr in Mechernich fertigen: Lahmeyer ist abgehauen. Die Bosse, zwischenzeitlich die RWE- Bosse, hatten entschieden, dass sich Mechernich nicht mehr ausreichend rentieren werde. Heute lassen sie solche Stationen in der Ohmstraße 1 in Neumark bei Plauen bauen. Also von West nach Ost gezogen. Kann man ja kaum etwas gegen haben. Lahmeyer heißt allerdings heute nicht mehr Lahmeyer sondern kurz: SGB/SMIT. Das heißt Starkstrom-Gerätebau GmbH, Regensburg (SGB) mit dem Tochterunternehmen Sächsisch-Bayerische Starkstrom-Gerätebau GmbH, Neumark/Sachsen (SBG) und der Royal SMIT Transformers B.V. Nimwegen/Niederlande. Der Name Lahmeyer erinnerte an den Tüftler und Erfinder Wilhelm Lahmeyer (dessen Leben endete, wenn ich das korrekt erinnere, im Irrenhaus); SGB/SMIT erinnert an gar nichts. Der Unternehmensname könnte auch R2D2 oder c-3PO lauten. Oder Scubi-du. Aber getüftelt wird in Mechernich immer noch auf den Fundamenten von Lahmeyer.

Heute heißt das Unternehmen Deutsche Mechatronics. Und investiert hatte als Mehrheitsgesellschafterin in das neue Unternehmen die Tri Star Gruppe mit Sitz in Shanghai – also jene, die vom Blaumann aus meiner Straße – wie gesagt – etwas chauvinistisch „Ölaugen“ genannt worden waren – fast eine Parabel. Mir ging diese Geschichte durch den Kopf, nachdem ich Franz Sommerfelds Stück über den Untergang Westdeutschlands gelesen hatte.

Was den Fall Lahmeyer angeht: Irgendwo hatten Bosse zusammen gesessen, neue Ziele diskutiert, erforderliche Preise genannt, Kapitalbedarf, -Beschaffung, Förderung in Ostdeutschland und Infrastruktur erörtert, den erwarteten Profit geschätzt, um zu entscheiden, dass im Lahmeyer-Werk meiner Heimat die Lichter ausgehen sollten.

All das nahm rund tausend Leute in Mitleidenschaft, Beschäftigte und deren Familien. Es tat der Stadt mit ihrem Steueraufkommen weh, privaten Umsätzen, Bauvorhaben, setzte Lebenshoffnungen unter Schock, erzeugte Krankheit und auch Elend. Die neuen Preise zogen wie ein gewaltgeladenes Tief über meine Heimat, aber auch um dort den Willen, Neues zu schaffen, anzufachen.

Natürlich führe ich das auch auf die Zähigkeit von Menschen in meiner Heimat zurück; aber was sie erlebten/erlitten, das haben Menschen überall dort mitgemacht, wo ein sogenannter Strukturwandel stattfand: Neues durch Zerstörung. Im beschriebenen Fall nicht auf Schumpeters Makroebene, sondern im Mikrobereich der Vor-Eifel.

 

Und nun beginnt auch noch die halbe Welt zu wandern, so dass bei uns manche den Verlust „unser Kultur“ bebrüllen, die Schiller für ein kaltes Mischgetränk und Heine für einen Fußballer aus Erkenschwick halten.

 

Das ist freilich nur die eine Hälfte. Die andere lautet: Gewohntes so gut es geht behalten. Sonst wäre ja nicht zu erklären, warum die Jüngeren unter uns die Familie und die guten Beziehungen zu Eltern und Großeltern für sehr, sehr wichtig halten. Vertrauen haben zu können ist ein Schlüsselwert. Liebe, Zuwendung und Anteilnahme stehen hoch im Kurs. Anstand zeigen. Alle Jugendstudien sagen das aus. Gerecht soll es in der Welt zugehen und Fairness in den Arbeitsbeziehungen herrschen. Ein Werte-Gefüge ist das nicht. Aber offenkundig ist dies notwendig, um ein Leben anständig leben zu wollen.

Auch in kleineren Städten wie Mechernich am Rand des Einzugsgebietes von Köln gibt es längst Bürgerinnen und Bürger, die sich um die jüngere und jüngste Geschichte kümmern, die die Nazizeit vor Ort aufarbeiten, Stolpersteine setzen lassen, in die Schulen gehen; die deswegen mit Gleichgesinnten gut vernetzt sind.

Andere sind sachverständige Bürgerinnen und Bürger, wurden in Gemeinde- oder Stadträte gewählt oder verloren eine Wahl. Wieder andere sind Mitglieder in Jugendvertretung oder Betriebs- beziehungsweise Personalrat, veranstalten Stadtteilfeste, nerven andere über Facebook, halten ihre Freundeskreise übers Internet zusammen, beteiligen sich an Diskussionen, organisieren Sportvereine, coachen und trainieren Kinder, singen mit in Chören, sammeln Kleider für kirchliche Einrichtungen oder Geld für Entwicklungsprojekte, bilden Initiativen, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht, führen ehrenamtlich kirchliche Büchereien. Sie wissen im Zweifel auch, was das Akronym SOLWODI bedeutet. Sie sind „Zivilgesellschaft“.

All das ist nur möglich auf der Grundlage kritischer, wacher Intelligenz – und der Überzeugung, dass es lohnt, für sich etwas zu tun und sich für andere zu engagieren.

Weil das so ist und immer noch geschieht, glaube ich nicht, dass wir den Untergang des westdeutschen Wertegefüges erleben. Ich weiß auch nicht so richtig, was da zusammengebracht worden ist, damit es sich fügt, und wann das geschehen sein soll. Ob Franz Beckenbauer zum Wertegefüge zählt, pardon gezählt hat, das kann ich nicht beurteilen. Bei mir sind das eher Lea Ackermann und Monika Hauser. Ob der Bausparvertrag irgendwie zum Wertegefüge gehörte, bezweifle ich. Bausparverträge sind nützlich, erleichtern die Finanzierung des Hausbaues. Aber bedeuten sie mehr? Im Feuilleton mag man das Für und Wider ausbreiten. Und dann? Werden anschließend mehr Bausparverträge oder weniger abgeschlossen? Ich fürchte, das Feuilleton hat da keinen Einfluss. Da verpufft jeglicher Zivilisationspessimismus.

An den Brüsten des Zivilisationspessimismus hängen – grob eingeteilt – zwei „Sorten“, um sich nähren zu lassen. Da sind die traditionellen rechten Pessimisten, die den Verlust ihrer Kultur und den Untergang des christlichen Abendlandes fürchten; und vergessen, dass noch das Christentum des Mittelalters den heute Lebenden erscheinen müsste wie eine „Alien Nation“. Und dann sind da die ehemals Linken, die den Glauben an Marxens Bewegungsgesetze („Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann…“) endgültig verloren haben. Auch diese Dinge zählen eher im Feuilleton als in der Welt des TVÖD (Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst), in der Welt der Zahnspange und der Freiberuflichkeit; nicht mal in der Welt des Busfahrers ist der übergreifende Pessimismus zu greifen, obwohl der mit schlappen 3000 € pro Monat einschließlich Zulagen sich täglich anmachen lassen muss, täglich angefrotzelt, angepöbelt, mitunter auch angespuckt wird.

Unsere gesellschaftliche „Eigenheit“ heute liegt nicht im Glauben an Erlösung durch Fortschritt; und auch nicht in der Überzeugung, unsere Werte gingen den Bach hinunter. Unsere gesellschaftliche Eigenheit besteht darin, dass wir alle seit einem Vierteljahrhundert in einem Durchgangszeitalter leben. Wir kommen aus der Sicherheit des festen, durch den Dollar gesicherten Wechselkurses und aus den klaren Verhältnissen des kalten Krieges in die große Zeit der Unsicherheit. Die bis in die sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bestehenden Milieus haben sich weitgehend aufgelöst, um einer Vielfalt von Lebensmodellen Platz zu machen. Unter großen Schwierigkeiten gelingt es allmählich, die auf homogene Lebensarbeits-Zeiten ausgerichteten Sozialsysteme so zu ändern, dass sie auf Vielfalt passen. Wir riskieren die winzige Temperaturspanne, auf welcher wir leben können, und hinterlassen den Kindern unserer Kinder und deren Kinder einen satanischen Müll. Und nun beginnt auch noch die halbe Welt zu wandern, so dass bei uns manche den Verlust „unser Kultur“ bebrüllen, die Schiller für ein kaltes Mischgetränk und Heine für einen Fußballer aus Erkenschwick halten. Entschuldigung, aber das musste mal gesagt werden.

Unser Vierteljahrhundert macht unsicher, es lässt Menschen stolpern und fallen, verzweifeln. Aber „definiert“, wenn eine solches Tätigkeitswort hier gelten kann, wird es durch die nach Millionen Köpfen zählende Schar derjenigen bei uns, die aus sich etwas machen, machen wollen ohne ihre soziale „Nachbarschaft“ zu vergessen. Sie tun das mit ihren Werten im – wie soll ich schreiben? – Bewusstsein, Kopf oder im Herzen.

Norbert Elias hat in seinen „Studien über die Deutschen“ die erstaunliche und „einzigartige“ Wirkung der arbeitenden Oberschicht für die Gesellschaft beschrieben. Deren unglaublicher Arbeitsfleiß. Diese Rolle kommt heute der arbeitenden, lernenden, sozial wachen, aufstiegsorientierten Mittelschicht zu, die sich zum Teil aus den Milieus der alten Arbeiterklasse rekrutiert. Ironisch geschrieben: So rächt sich „die Geschichte“ für den Verrat der Kinder an der Kultur der Väter und Mütter indem sie denen ungeahnte neue Aufgaben und Verantwortungen zuweist.

Sorgen müssen wir uns wegen vieler Geschehnisse machen. Und selbstverständlich erzeugen wir Probleme, die wir am Ende nicht mehr beherrschen können. So bleibt ein schmaler Weg für die Zivilgesellschaft, wie der letzte Anstieg auf dem Mount Everest. Klettern in einer Todeszone. Machbar ist das.