Magdeburger Gründungsaufruf

 

Klaus Vater hat am 16. November 2014 - 13:24 kommentiert

Den Magdeburger Gründungsaufruf habe ich gelesen, weil ich meine, dass eine gut sortierte, sich auf der Höhe der Zeit befindende Linke in der SPD für die Gesamtpartei von Nutzen ist. Ob sie mit ihren Vorstellungen gleich schon Zentrum der SPD war oder sein sollte, möchte ich bezweifeln. Ich glaube nämlich nicht, dass eine solche Behauptung einer Prüfung standhalten würde. Hält sie nicht stand, und wissen die Autoren, dass sie es nicht tut, ist die Behauptung reine Propaganda.
In diesem Herbst bin ich 45 Jahre lang SPD- Mitglied, also länger als ein halbes Leben, war Vorwärts-Redakteur, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion, Sprecher von SPD-geführten Ministerien. Eine meiner Hoffnungen bestand darin, dass in der SPD endlich das alberne, vorrangig von in sich unsicheren Menschen betriebene Einsortieren nach Flügeln, ich will sagen nach der politischen „Gesäßgeographie“ aufhört. Mitnichten. Der Gründungsaufruf strotzt vor solchem Karteikarten-Denken; auch Entlarvendes hat sich im Aufruf breit gemacht.
Es heißt da: Eine zentrale Gerechtigkeitsfrage bleibe die Bildung. Richtig. Nur: Wie viele zentrale Gerechtigkeitsfragen weisen wir vor? Zwei, vier, sechs, acht? Wie viele zentrale Gerechtigkeitsfragen gibt es für uns? Ist am Ende alles zentral? Unterscheiden sich solche Setzungen am Ende nur durch den Standpunkt des Fragenden? Wie viel taugt so etwas denn noch?
Wenn wir mehr als bisher politisch erreichen wollen – und was wir erreicht haben, das ist eine große Anzahl wirklicher Reformen, die den Menschen geholfen haben -, dann muss das doch mit der Klarheit in der Sprache einhergehen! Ein Gründungsaufruf ist keine Aneinanderreihung von Twitter- Äußerungen!
Wörtlich heißt es im Aufruf: „Ziel ist die komplette Gebührenfreiheit von der KiTa bis zum Studium, aber auch mehr Inklusion.“ Wieso „aber auch“? Warum nicht „und“? Gebührenfreiheit und Inklusion; und zwar Inklusion, wo immer sie erforderlich ist? Uneingeschränkte kostenlose Bildung für alle hier, etwas mehr Teilhabe behinderter Menschen da. Wer mehr will, mißt das mehr am weniger. Nach einer Maßgabe. Nach Maßgabe von was? Was ist "mehr" in diesem Zusammenhang?
Nach meinem Eindruck ist die Bildungs- bzw. die Inklusions-Aussage des Aufrufs Beispiel des Verhältnisses der Magdeburger Aufrufer zur Sozial- und Gesellschaftspolitik. Die SPD wird zwar als Partei der sozialen Gerechtigkeit beschworen, aber anschließend kommt nichts. Nix. Niente.
Die fundamentale, durch Humanität, Gesetz, durch Forderung und Einsicht, durch Demographie, medizinischen Fortschritt und anderes mehr erzwungene Beschäftigung mit der Pflege kommt nicht mal vor.
An die Lösung des Problems, dass in den kommenden Jahren die zuwachsenden Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließlich durch Beschäftigte und Altenteiler getragen werden, und dass die SPD hierfür keine Bremse hat, lediglich die Hoffnung, nach 2017 regieren zu können, an das Problem verschwendet der Gründungsaufruf kein Wort. Der CDU- Gesundheitspolitiker Spahn hat dieser Tage - unwidersprochen - geschätzt, dass der Beitrag zur Krankenversicherung in zehn Jahren auf die jetzige Höhe des Rentenversicherungsbeitrags (von 14,6 auf 18,8 vH) steigen wird. Kein Wort zu solchen möglichen Entwicklungen. Rudolf Dreßler hat früher, auf solche Defizite hin gesagt: Die kennen die Bodenbeschaffenheit in Indochina genau, aber die Höhe des Sozialhilfesatzes kennen sie nicht. Scheint noch aktuell zu sein.
Nun könnte man sagen: Du nervst, Klaus Vater. Ein Gründungsaufruf ist kein SPD-ABC. Stimmt. Aber wenn sich die Aufrufer schon die Mühe machen, Vermögensteuer, Kitas, Salafisten, zentrale Gerechtigkeitsfragen, historische Verdienste und Ganztagsschulen aufzurufen, dann müssen Fragen nach der Pflege, der GKV und wer sie bezahlt (nur zur Erinnerung: Die Verteilungsauseinandersetzung bezieht sich auf die gesamte Wertschöpfung) gestattet sein.
Absolut nicht links ist, was die Magdeburger Gründerväter und -mütter unter dem Stichwort Mehrheitsfähigkeit aufgeschrieben haben. Die bestehenden inhaltlichen und strategischen Differenzen zu Parteien links von der Union könnten nur in "offenen und konstruktiven Diskussionsprozess" beseitigt werden. Ich mache es weniger schwurbelig aber dafür kürzer: Wenn die Partei-Linke ihre Antisemiten rauswirft, können wir anders miteinander reden. Mit Antisemiten und solchen, die bereit sind die Existenz Israels aufs Spiel zu setzen, machen wir keine Politik. Auch nicht im "offenen und konstruktiven Diskussionsprozess".
Man mag ja der SPD insgesamt zu Recht vorhalten, dass sie gern allen möglichen modischen Erscheinungen hinterher läuft (das Fremdwort hierfür fängt an mit Opp... an, fällt mir aber partout im Augenblick nicht ein). Ein solches Verhalten schließt Linke mit ein.
Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Partei Bebels, Brandts und Vogels und Gabriels eine vom Reformismus durchtränkte Organisation ist. Das unterscheidet uns von anderen. Der Reformismus kennt keinen "großen Sprung nach vorne", Erlösung durch Schimpfen über eine Supermacht hilft nicht (nicht wahr Genosse Stegner?), Enttäuschungen sind für Reformisten vorprogrammiert. Aber (ein echtes aber): Nur Reformismus bietet die Chance, den Kapitalismus nutzen und verändern und gleichzeitig alle Bürgerrechte erhalten zu können. Nur durch und im Reformismus geht das. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Niemand kennt die Risiken des Reformismus übrigens besser als die SPD. Haben wir eine Mehrheit für unsere Ziele? Sind wir in der Minderheit? Zwischen welchen Alternativen können wir wählen? Wer geht uns von der Fahne, wenn wir so, wen verlieren wir, wenn wir anders entscheiden? Manchmal behalten wir Recht auf unserem Weg zu Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit; manchmal irren wir. Manches Mal haben wir eine Mehrheit verloren, manches Mal sie zurück geholt. Reformen wecken einerseits Ablehnung, weil sie wegnehmen und nicht nur geben; sie wecken andererseits einen Bärenhunger nach mehr Reform bei denen, die sich sagen: Klappt doch. Jetzt geht´s richtig los. Peter Glotz hat einmal geschrieben "jede politische Entscheidung steht im Zwielicht solcher Unsicherheit." Seit über hundert Jahren sei das so.
Das ist unser Reformismus. Erfolgreich waren wir dann, wenn wir unsere Geschichte gut genug erzählt haben, unsere Story - und wenn wir die richtigen "Bandleader" und "Bandleaderinnen" hatten. Was ich schreibe, das wird nicht schmecken. Es hilft aber. Wetten?
Grüße
Klaus Vater